Romane

Im Traum wurde Yair von einem Skorpion gestochen und fiel in einen Traum zweiten Grades: Er saß mit seinem Großvater am Strand und schlug vor, zu den Kindern überzusiedeln, die sich weiter hinten, im Schatten der Palmen, ihren Pyramiden widmeten. “Wir bauen zu dicht am Wasser”, erklärte Yair. Sein Großvater bestand darauf: “Das muss so sein.” Ohne Wasser ließ sich der Mörtel nicht anrühren. Wie sollten da die Wände halten?

Weil der 86-jährige Avigdor Seliger nicht mehr spricht, steckt ihn seine Tochter Hannah in ein Altersheim. Die Ärzte sind sich nicht sicher: Verirrt sich der Mann allmählich in die Nebel der Demenz oder verweigert er das Sprechen bewusst? Weil Enkel Yair fürchtet, der Großvater könnte seinen Bezug zur Realität verlieren, erzählt er ihm jene Geschichten, die der Senior während der Schulferien am See Genezareth einst ihm erzählt hat. Allerdings erinnert sich Yair nicht immer genau. Er erfindet hinzu, übertreibt, wandelt ab – in der Hoffnung, den Großvater doch noch aus der Reserve zu locken und sich selbst vom eigenen Lebenschaos im Tel Aviv der Gegenwart abzulenken. Er lässt die schöne Bella Rubinsteyn auferstehen, die sich während der Schwangerschaft nur von exotischem Obst ernährt, weil sie ein besonderes Wesen gebären will; die exaltierte Olympiada, die den Durst der KGBler nach Unbill mit körperlicher Liebe zu stillen sucht; Danuta, die als Anführerin einer Waisenkinder-Bande die Märkte von Taschkent unsicher macht…
Babylonisches Repertoire” erscheint im September 2021 im Müry Salzmann Verlag. Zur Verlagsvorschau: https://www.muerysalzmann.com/online-shop/babylonisches-repertoire

Tolik legt mir die Hand auf die Schulter. Und schaut mir mit verschwörerischem Blick in die Augen. Ein Grinsen kann er sich nicht verkneifen: Wenn wir uns jetzt noch schnell küssen, können sie uns nicht mal verhaften.


Jekaterinburg, benannt nach Katharina der Ersten, liegt zu Füßen des Ural am östlichen Rand Europas. Dorthin reist im Jahr 2013 ein junger deutscher Slawist, um russische Studenten in deutscher Sprache und Kultur zu unterrichten. Über soziale Netzwerke hat er im Vorfeld bereits einige Bekanntschaften geschlossen, und so holen ihn vier junge Männer vom Flughafen ab. In einer Welt, die auf kafkaeske Weise im 19. Jhdt. steckengeblieben zu sein scheint, ist der deutsche Gast eine echte Attraktion, doch jeder fragt ihn: Warum, um Gottes willen, kommst du freiwillig nach Russland? Erst recht als Schwuler – zu einer Zeit, als die Duma „homosexuelle Propaganda“ per Gesetz verbieten will?
“Wir Propagandisten” erzählt, was dem deutschen Gast im Laufe eines Jahres in Russland widerfährt: Wolkenfeld fängt mit seinem sehr individuellen Tonfall die Atmosphäre und den Geruch einer Welt ein, die dem deutschen Leser weiter entfernt scheint als die 3000 Kilometer Luftlinie auf der Landkarte. Während seines Aufenthalts ist er ständig von einer Clique von Freunden umgeben, jungen Studenten, die noch bei ihren Eltern wohnen und nicht im Traum darauf kämen, sich öffentlich als schwul zu erkennen zu geben. Ihr Treffpunkt ist die Küche des deutschen Lehrers, wo Pelmeni köcheln und Wodka getrunken wird, oder sogenannte „Themenklubs“: “Wir fahren in einen dunklen Hinterhof hinein. Weder Lichter noch Menschen, nicht einmal der Schatten einer Katze huscht vorüber. Hier, fragt der Fahrer verunsichert. Und Mitja drückt ihm einen Schein in die Hand. Wir laufen kahle Wände entlang, biegen, an den Toiletten vorbei, um die Ecke und betreten einen Raum, der eher einem Speicher als einer Bar ähnelt, grau und geräumig. Full house, staune ich. Die mit Samt bezogenen Galerien seitlich der Tanzfläche sind bis auf den letzten Platz besetzt.”
Der Roman kann in jedem Buchladen bestellt oder direkt auf der Seite des Verlages gekauft werden:
https://www.maennerschwarm.de/index.php/termine/554-wir-propagandisten

Sabine Peters schreibt in ihrer Rezension für die Berliner Zeitung: „Wolkenfeld greift Klischees und Stereotypen auf, um sie behutsam aufzudröseln, sodass man lauter einzelne Gesichter sieht. Dieser Vielfalt unterschiedlicher Menschen, die den Roman bevölkern, soll es aber in der Realität nicht geben: Noch während der Erzähler in Jekaterinburg lebt, tritt das Gesetz in Kraft, das ‚homosexuelle Propaganda‘ verbietet und damit nicht nur das Reden über, sondern die Schwulen selbst verbieten will. […] ‚Wir Propagandisten‘ ist das Gegenteil von Propaganda, von vereinfachender Werbung. Man hat es mit gelungener Literatur zu tun. Die Erfahrungen der Figuren, Neugier und Lebensfreude, Angst und Protest bilden ein nachvollziehbares, komplexes Ganzes. Das Buch ist bis auf eine kleine stilistische Macke schön geschrieben, es gibt viel Situationskomik und originelle Bilder. Ein lesenswerter Roman.“ (Sabine Peters: Besuch bei der Minderheit, Berliner Zeitung, 23./24. Januar 2016)

Sarah Wiedenhöft schreibt im SPIEGEL online: “Gabriel Wolkenfeld ist Berliner und während seines Studiums nach Russland gereist, um dort Deutsch zu unterrichten. Darum geht es auch in seinem Buch. “Warum, um Gottes willen, kommst du freiwillig nach Russland? Erst recht als Schwuler – zu einer Zeit, als die Duma ‘homosexuelle Propaganda’ per Gesetz verbieten will?” Dieser Frage begegnet er immer wieder. Wir haben uns das auch gefragt. “Wir Propagandisten” liefert eine wunderbare Antwort. Lesen lohnt sich.”
https://www.spiegel.de/panorama/queere-autoren-buchmesse-frankfurt-a-00000000-0003-0001-0000-000000014659

In seiner Rezension schreibt Marc Lippuner: “Ich habe Gabriel Wolkenfeld im Herbst 2015 auf einer Lesung erlebt. Er saß da auf einem abgewetzten, verschnörkelten Sessel; eine metallene Stehlampe, die den Eindruck erweckte, als wüsste sie, dass sie da nicht hingehört, stand schief daneben und beleuchtete dürftig die mit einer verkümmerten Zimmerpflanze und opulenten Kunstblumen ausgestaltete Bühne. Als Wolkenfeld anhob zu lesen, bekam diese Szenerie etwas Skurriles: Da saß dieser schlanke, junge Mann mit den dunklen Haaren und dem hellen Hipster-Pullover in diesem traurigen Bühnenensemble und aus seinem Mund perlten Sätze, die so kostbar zu sein schienen, dass man sie direkt von seinen Lippen auffangen und auf Watte betten mochte. Die manierierte Art, mit der Wolkenfeld aus seinem Debütroman vortrug – zart, aber bestimmt, voll gespreizter Monotonie, die Worte eine Spur zu langsam, einen Hauch zu deutlich artikuliert – schien kalkuliert. Ein Umstand, der mich befremdete und zugleich anzog, weil der eigenwillige, artifizielle Tonfall so gut zu den eigenwilligen, artifiziellen Sätzen passte, die, über ein Mikrofon verstärkt, im Raum leise widerhallten. […] Wir Propagandisten ist Gabriel Wolkenfelds Protest. Keiner der laut herausgeschrieen wird, wie der, den Thomas Wodianka in Small Town Boy artikuliert. Kein Wutmonolog, keine Agitation, sondern eine eigenwillige Liebeserklärung an die russischen Freunde, die keine Stimme mehr haben. Zarte, aber bestimmte Propaganda, die leise – und vor allem lange – in einem widerhallt.” https://schwulenkram.wordpress.com/2016/04/11/wolkenfeld/